Zu den vielen Themen, die derzeit wegen der Covid 19-Krise in der Hintergrund treten, zählt der 175. Geburtstag von Mathilde Rathenau. An dieser Stelle soll mit einem Auszug aus einem Beitrag in einem Sammelband an sie erinnert werden.
Sabine Mathilde Rathenau (1845–1926), Mitbegründerin eines
sozialen Hilfswerks für weibliche Beschäftigte der AEG
von Thomas Irmer
»Es war schon später Abend, als sie mich, nach bangen Stunden des Wartens, endlich empfing. Sie war wie Niobe erstarrt. Für sie gab es keinen Lebenssinn, keine Zukunft, keine Kinder mehr. (...) Es war ein schwerer Kampf, bis sie wieder zu einer menschlichen Reaktion fähig war«. Mit diesen Worten beschreibt die Schriftstellerin Ursula von Mangoldt die Begegnung mit ihrer Großmutter Mathilde Rathenau am Abend des 24. Juni 1922, an dem Tag, an dem ihr Sohn, der damalige Aussenminister Walther Rathenau, ermordet worden war.
Ursula von Mangoldt war die erste Familienangehörige, die Mathilde Rathenau nach dem von rechtsradikalen Freikorps-Soldaten verübten Attentats antraf. Mit der Anleihe an die griechische Mythologie wollte Mangoldt wohl den unermesslichen Schmerz beschreiben, den ihre Großmutter erfasst hatte. Niobe, Königin von Theben und Tochter des Tantalus, erstarrte voller Schmerz, als sie erfuhr, das ihre 14 Kinder getötet worden waren. Und die Götter verwandelten sie anschließend zu Stein. (…) Die Ermordung des geliebten Sohnes durch rechtsradikale Freikorps-Soldaten der »Organisation Consul« war für Mathilde Rathenau wohl der brutalste in einer Reihe von, wie es in einem Nachruf des »Jüdischen Jahrbuchs« hieß, »schweren und unnatürlichen Verlusten«, die ihr Leben in großen Teilen, aber nicht ausschließlich kennzeichneten. (…)
Die Rekonstruktion der Biografie von Mathilde Rathenau, die in den folgenden Ausführungen nur in Ansätzen geleistet werden kann, ist mit einer fragmentarischen Quellenlage konfrontiert. Zu Lebzeiten wollte Mathilde Rathenau selbst nie öffentlich in Erscheinung treten. (…) Zeitgenössische Angaben zur Persönlichkeit von Mathilde Rathenau sind in der ersten größeren, 1927 erschienen Biografie über Walther Rathenau enthalten, die von der Publizistin und Anarchosyndikalistin Etta Federn-Kohlhaas (1883-1951) verfaßt wurde.
Mathilde Rathenau hat die Erstellung dieser Arbeit beauftragt und der Autorin Auskünfte erteilt. Aus diesen Begegnungen hat Etta Federn-Kohlhaas ihre Eindrücke über Mathilde Rathenau so zusammengefaßt: »Die Gespräche mit Walther Rathenaus Mutter zeugten noch in ihrem hohen Alter für ihren vielseitigen, stets beschäftigten Geist, für ihre gründliche Bildung und ihr ungewöhnliches Wissen. Ihre psychologischen Bemerkungen waren von männlicher Schärfe und Klarheit. Dabei war sie von einer Abgeklärtheit und Weisheit, die inGegensatz zu ihrem starken leidenschaftlichen Temperament standen«.
Von der Geburt zum Aufstieg der AEG
Sabine Mathilde Rathenau wurde heute vor 175 Jahren, am 17. März 1845 in Mainz geboren. Sie entstammte einer Mainzer jüdischen Kaufmanns- und Bankiersfamilie, deren Vorfahren sich dort im 18. Jahrhundert niedergelassen hatten. Die Familie soll von der Familie des Rabbi Moses ben Nachmann abstammen, einem der jüdischen Mystiker des 12. Jahrhunderts. Mathilde Rathenau verlebte jedoch nur ihre frühe Kindheit in Mainz. Als sie zehn Jahre alt war, übersiedelten ihre Eltern nach Frankfurt am Main. Der berufliche Erfolg des Vaters ermöglichte der Familie einen bürgerlichen Lebensstil. Am 15. Oktober 1866 heiratete Mathilde Nachmann im Alter von 21 Jahren in Frankfurt/M. den knapp sieben Jahre älteren Berliner Ingenieur Emil Moritz Rathenau (1838-1915) und wechselte nach Berlin.
Zu diesem Zeitpunkt war Emil Rathenau jedoch noch nicht der bedeutende deutsche Unternehmer, der er mit der von ihm gegründeten »Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft« werden sollte. Nach einer Lehre und anschließendem Maschinenbau-Studium in Hannover und Zürich hatte Emil Rathenau zunächst u.a. als technischer Zeichner bei Borsig an der Berliner Chausseestraße gearbeitet, die »Berlins Industrieader des 19. Jahrhundert« war. Nach Tätigkeiten in England war Emil Rathenau nach Berlin zurückgekehrt. Mit finanzieller Unterstützung seines Jugendfreundes Julius Valentin erwarb Emil Rathenau die Maschinenfabrik M. Webers an der Chausseestraße 99.
Auch die Familien der beiden Unternehmensteilhaber lebten dort. Sie bezogen zunächst ein einstöckiges Wohnhaus, das sich ebenfalls auf dem Gelände befand. Dort brachte Mathilde Rathenau 1867 den Sohn Walther zur Welt, der das erste von drei Kindern war. In den ersten Jahren an der Chausseestraße soll Mathilde Rathenau ihrem Mann auch in geschäftlichen Angelegenheiten beratend zur Seite gestanden haben. »Mathilde war Emil Rathenau sein ganzes Leben hindurch eine treue und kluge Lebensgefährtin«, so der Emil-Rathenau Biograf und Wirtschaftsjournalist Felix Pinner, »die in den jungen Jahren der ersten kaufmännischen Tätigkeit an den Plänen und Arbeiten ihres Mannes ihren beratenden Anteil nahm und ihm später in den Jahren des beschäftigungslosen, manchmal unbefriedigten Suchens stützend und anspornend zur Seite stand«. Auch ihre Mitgift brachte Emil Rathenau in das Unternehmen ein. Durch den Vertrieb einer von Rathenau entwickelten Einheitsdampfmaschine wurde die Maschinenfabrik wirtschaftlich bald erfolgreich.
Die Jahre an der Chausseestraße wurden jedoch durch den ersten großen Verlust im Leben von Mathilde Rathenau überschattet, dem Selbstmord ihres Vaters. Er brachte sich 1870 im Alter von 54 Jahren um, nachdem er sein Bankhaus und sein eigenes Vermögen an der Börse verloren hatte.
Fünf Jahre später zog sich Emil Rathenau aus der durch Rüstungsfertigung während des deutsch-französischen Krieges weiter gewachsene Maschinenfabrik an der Chausseestraße zurück. Die Hausbank seines Unternehmens bereit in Folge des sogenannten Gründerkrachs in Liquidationsschwierigkeiten und stellte bereits zugesagte Mittel für eine beabsichtigte Expansion nicht mehr zur Verfügung. Kurze Zeit später musste die Maschinenfabrik geschlossen werden. In den folgenden zehn Jahren enthielt sich Rathenau wirtschaftlicher Betätigung. »Missmutig zog er sich zurück«, so Felix Deutsch, engster Mitarbeiter und späterer Nachfolger von Emil Rathenau bei der AEG, »sein Ruf hatte natürlich gelitten, und es wurde ihm sehr schwer, neue Unternehmungen zu beginnen resp. Kapitalien dafür zu finden. Er reiste viel, interessierte sich für Neuerungen und begann eigentlich von Neuem das Studium der modernen Technologie«.
In dieser Phase des Suchens entdeckte Rathenau die Bedeutung der Erfindungen des amerikanischen Thomas A. Edison, deren Patentrechte er sich für die Verwertung in Deutschland sichern konnte. Rathenau kehrte an die Chausseestraße zurück, um dort 1883 das erste Werk „Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität“ (DEG), der Vorläuferin der AEG, zu eröffnen. Damit markierte er auch räumlich den Übergang zwischen den modernen Leitindustrien des 19. bzw. 20. Jahrhunderts.
Mathilde Rathenau übernahm in diesem Zeitraum vor allem der Erziehung der drei Kinder. Nach der Geburt von Walther hatte sie 1871 den zweiten Sohn Erich zur Welt gebracht, der später das Kabelwerk Oberspree leitete und möglicherweise die Nachfolge von Emil Rathenau hätte antreten sollen. Anfang 1883 brachte Mathilde Rathenau die einzige Tochter, Edith, zur Welt. Sie heiratete später den nicht-jüdischen Bankier Fritz Andreae, mit dem sie 1939 in die Schweiz emigrierte. »Mathilde Rathenau war keine weiche, sentimentale Mutter, aber ihre Pflicht und Verantwortungsbewußtsein trieb sie«, so Etta Federn-Kohlhass, »sich den Kindern mehr zu widmen, als man bei einem so groß zugeschnittenen Haushalt für möglich halten sollte. Sie ging mit ihnen spazieren, übte die fremde Sprache mit ihnen, überwachte ihren Unterricht«. Außerdem unternahm sie Kuren mit dem zweiten Sohn Erich, der an einem Gelenkrheumatismus erkrankt war. Sein früher Tod war der zweite große Verlust, den Mathilde und Emil Rathenau privat traf: Erich Rathenau starb 1903 im Alter von nur 32 Jahren an einem Herzleiden, das in Folge des Rheumatismus entstanden war. (…)
Die »Mutter der AEG« - Die Mathilde-Rathenau-Stiftung für weibliche Angehörige und Hinterbliebene
Obwohl Mathilde Rathenau keine aktive Rolle in der AEG spielte, spricht einiges dafür, daß sie Einfluß auf die patnernalistische Fürsorgepolitik des Unternehmens nahm. Um 1890 gründete die AEG verschiedene "Wohlfahrtseinrichtungen" für ihre Angestellten und Arbeiter, die teilweise in direkter Verbindung mit Mathilde Rathenau standen. Durch ihr Engagement sei sie, so Paul Mamroth, »die gütige, verständnisvolle, stets hilfsbreite Mutter der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft« geworden. (…) 1892, etwas weniger als zehn Jahre nach Gründung des AEG-Vorläufers DEG und fünf Jahre nach dessen Umfirmierung in AEG wurde die nach Mathilde Rathenau benannte »Mathilde-Rathenau- Stiftung für weibliche Angehörige und Hinterbliebene von Angestellten der AEG und Berliner Elektritätswerke (BEW)« gegründet.
Die Errichtung der Stiftung fiel in eine Phase, in der die AEG wohl die wichtigsten Grundlagen ihres Geschäfts gelegt hatte: Binnen zehn Jahren war der Geschäftsbereich von der Herstellung von Glühlampen und Isolationsmaterial auf den gesamten Starkstrombereich ausgedehnt worden, in dem die AEG in Europa eine führende Stellung einnehmen sollte. Die Zahl der in ihren Werken beschäftigten Arbeiter und Angestellten war auf etwa 3.000 Menschen angestiegen. (…)
Das Besondere an der Mathilde Rathenau-Stiftung war ihre explizite Ausrichtung auf die Unterstützung von Frauen durch Frauen. Gegenstand der Stiftung war die Gewährung von Unterstützungsleistungen an weibliche Angehörige und Hinterbliebene der AEGin Krankheitsfällen. Oberstes Gremium der Stiftung war ein Kuratorium, das mehrheitlich aus Frauen bestand. Das Kuratorium entschied nach dem Mehrheitsprinzip über die Unterstützungsanträge und konnte zu Beratungszwecken weitere Angestellte oder Ehefrauen von Angestellten kooptieren oder Unterausschüsse bilden. Neben Mathilde Rathenau als Ehrenvorsitzender gehörten ihm eine Ehefrau eines technischen Beamten der beiden Gesellschaften AEG und BEW, eine Ehefrau eines kaufmännischen Beamten, eine Ehefrau eines Monteurs oder Arbeiters sowie ein Schriftführer und Schatzmeister an. Satzungsgemäß war außerdem festgelegt worden, dass die Spitzenposition der Stiftung auch im Fall des Ausscheidens von Mathilde Rathenau weiter durch eine Frau einzunehmen war, die von den Unternehmensvorständen von AEG und BEW gewählt werden sollte. Damit sollte offenbar die Kontinuität von Frauen an der Spitze der Stiftung gewahrt bleiben, die zugleich eng mit dem Unternehmen verbunden wurde, das die finanziellen Mittel für deren Arbeit zur Verfügung stellte.
Grundlage des Stiftungsvermögens war ein Betrag von 16.000 Mark, der von Mathilde Rathenau und -wie es in der Satzung der Stiftung hieß- »von Freuden derselben« zur Verfügung gestellt wurde. Die Erträge dieses Gründungskapitals, das in Aktien und verzinsten Guthaben bei der AEG angelegt wurde, bildeten ein Teil der für die Arbeit der Stiftung zur Verfügung stehenden Gelder. Außerdem wurde die Stiftung durch jährliche Zuwendungen der AEG (und BEW) bezuschusst.
Die Ziele der Arbeit der Mathilde-Rathenau-Stiftung verdeutlichen folgende Zahlen: Allein im Jahr 1904 wurden beispielsweise Bargeldleistungen in 498 Fällen geleistet und Stärkungsmittel in 678 Fällen verteilt. Außerdem Arzneimittel, Heilmittel wie Massagen, Brillen und Bandagen in 134 Fällen sowie, Milch für Säuglinge und Kranke in 308 Fällen. Die Stiftung trug außerdem die Kosten für Kuren und Verpflegung in Krankenhäusern in 205 Fällen, Aufenthalts- und Pflegekosten für 155 in Ferienheime verschickte Kinder, Honorare für Stiftungs- und andere Ärzte und Zuschüsse anHauspflege und Krankentransporte. Damit übernahm die Mathilde-Rathenau-Stiftung Aufgaben, die einer Art Krankenkasse für Frauen entsprochen hätte. Sie war ein erstaunlich frühes Beispiel einer betrieblichen Sozialpolitik, die sich explizit an Frauen wandte. (…) 1898 führte die Mathilde- Rathenau-Stiftung die kostenlose ärztliche Behandlung für alle Arbeiter, Monteure und Hilfsmonteure ein, die mehr als sechs Wochen bei der AEG oder ihrer Tochtergesellschaften beschäftigt waren.
Unklar ist, ob Mathilde Rathenau auch Einfluß auf die Gründung einer Kinderkrippe zur Betreuung von Kindern von Fabrikarbeiterinnen nahm, die das Kabelwerk Oberspree 1902/03 zusammen mit der Gemeinde und dem »Berliner Krippen-Verein« in Oberschöneweide gründete. Der Berliner Krippen-Verein war neben dem ebenfalls 1869 gegründeten »Berliner Kinderschutz-Verein« (BKSV) eine von zwei um 1870 gegründeten privaten sozialreformerischen Berliner Hilfsorganisationen, die sich speziell um sogenannte »Haltekinder« kümmerten. Als »Haltekinder« galten unehelich geborene Kinder aus Unterschichtsfamilien, die von ihren Müttern in private Pflege gegeben wurden bzw. werden mußten. Auf der Grundlage von privaten Spenden seiner Vereinsmitglieder sowie auch von Außenstehenden, darunter von Fabrikanten, Kaufleuten und dem Adel, betrieb der BKV in verschiedenen Berliner Stadtteilen Kinderkrippen sowie eine Säuglingspflegeanstalt und ein Mütterheim. Der Historiker Meinolf Nitsch hat darauf hingewiesen, daß Mathilde Rathenau den BKV auch persönlich mit einer Geldspende unterstützte.
Mathilde Rathenau war darüberhinaus als stille Förderin für eine Reihe von weiteren sozialen und kulturellen Zwecken tätig, ohne das dies zu ihren Lebzeiten öffentlich bekannt wurde bzw. werden sollten. (…) Außerdem förderte Mathilde Rathenau auch kulturelle Projekte wie die Frauenzeitschrift »Die Jüdische Frau«.
Mathilde und Walter Rathenau
Die Beziehung zwischen Mathilde Rathenau zu ihrem Sohn Walther wird in der Forschung als besonders eng beschrieben.(…) Der Historiker Ernst Schulin hat aber darauf hingewiesen, dass das das Bild der Forschung, die Mathilde Rathenau gegenüber ihrem Sohn eine sehr einflußreiche, dominante Rolle zuweist, korrigiert werden müsse. (...) Trotzdem oder gerade deshalb nahm Mathilde Rathenau auch regen Anteil an dem beruflichen Wirken ihres Sohnes als Politiker. Nach der Ermordung des ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger (Zentrum) im Jahr 1921 soll sie ihren Sohn inständig wie am Ende vergeblich gebeten haben, kein weiteres politisches Amt anzustreben. (...)
Drei Tage nach der Ermordung ihres Sohnes schrieb Mathilde Rathenau einen Brief an die ihr bekannte Mutter von Ernst Werner Techow, dem Fahrer des Wagens der Attentäter. »In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist des Ermordeten ihm verzeihe, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein Geständnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben - Mathilde Rathenau«. Der Brief ist ein beeindruckendes Zeugnis der großen inneren Auseinandersetzung, die Mathilde Rathenau geführt haben muss. Sie fordert Gerechtigkeit und zeigt die gangbaren Wege dazu auf: die Übernahme von Verantwortung und das Eingeständnis der Schuld, die Verwandlung von Haß in Scham durch die Einsicht in den Irrsinn der Tat und die Anmut des Opfers (…).
Erinnerung und Gedenken an Walther Rathenau
Bis zu ihrem Tod 1926 verbrachte Mathilde Rathenau die Sommermonate auf Schloss Freienwalde im Oderbruch, dem Sommersitz ihres Sohnes. (…) Mathilde Rathenau versuchte in vielfältiger Weise, selbst das öffentliche Andenken an Walther Rathenau mitzugestalten. So befasste sie sich mit der Ordnung des Nachlasses von Walther Rathenau. (...) Von großer Bedeutung war auch die Herausgabe von Briefen ihres Sohnes in einer zweibändigen Ausgabe, die 1926 mit großem Erfolg erschien. Die Briefe hätten die Erinnerung an die Persönlichkeit von Walther Rathenau, so Ernst Schulin, nachhaltig und noch stärker als die Rathenauschen Schriften selbst beeinflußt.
Die Bearbeitung des Nachlasses sollte jedoch keine reine Privatangelegenheit sein. Noch 1922 hatte Mathilde Rathenau die Rathenau-Villa in der Grunewalder Koenigsstraße samt dem umfangreichen Inventar der Reichsregierung als Stiftung und Ort für die Errichtung einer Gedenkstätte angeboten. Das Reichsinnenministerium übernahm das Anwesen schließlich 1924. Anfang 1927 sollte dort ein Rathenau-Archiv eröffnet werden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Rathenau-Stiftung 1933 und die 1928 gegründete Walther-Rathenau-Gesellschaft 1939 aufgelöst.
Das Rathenau-Archiv und das Haus im Grunewald fielen zurück an die einzigen verbliebenen Erbin, Mathilde Rathenaus Tochter Edith Andreae. Bei ihrer Emigration mußte sie das Haus 1939 verkaufen. Das Rathenau-Archiv, das sie in Oberbayern versteckt hatte, wurde vom Reichssicherheitshauptamt beschlagnahmt. Anfang 1945 konnte die Rote Armee die Unterlagen erbeuten. Mehr als vier Jahrzehnte wurde das Rathenau-Archiv in Moskau verwahrt, wo es auch sowjetischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bis 1992 nicht zugänglich war.
Mathilde Rathenaus großer Wunsch, an der Mordstelle in der Grunewalder Königsallee ein Mahnmal nach einem Entwurf des Bildhauers Georg Kolbe zu errichten, wurde aus verschiedenen Gründen nicht erfüllt. (...) Einen von Georg Kolbe gestalteten Brunnen, den Mathilde Rathenau für den Volkspark Rehberg stiftete, wurde dort erst nach ihrem Tod errichtet. Während des zweiten Weltkriegs schmolzen die Nationalsozialisten den Brunnen als "Metallspende" für die Rüstungsproduktion ein. Erst n den 1980er Jahren wurde eine von dem Bildhauer Hans Haacke erstellte Reproduktion am historischen Ort wiedererrichtet.
Nach dem Tod von Mathilde Rathenau schenkte ihre Tochter Edith Andreae das Schloss Freienwalde dem Landkreis Oberbarnim mit der Maßgabe, dort eine öffentlich zugängliche Gedenkstätte für Walter Rathenau zu errichten. Nach der Emigration der Familie wurde die das Schloss betreibende Walter Rathenau Stift GmbH 1939 aufgelöst. In den folgenden Jahren stand das Schloss leer. Nach der Befreiung wurde dort ab 1949 das »Puschkin-Haus« mit dem Standort der Kreisbibliothek betrieben. Erst Anfang der 1990er Jahre wurde in dem Schloss eine Walther-Rathenau-Gedenkstätte errichtet, die nach umfangreichen Renovierungsarbeiten seit 2007 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Heute hat der Landkreis das Rathenau-Schloss zum Verkauf gestellt.
Tod
Mathilde Rathenau starb am 28. Juli 1926 im Alter von 81 Jahren auf Schloss Freienwalde im Oderbruch. Sie wurde in der 1903/04 nach Entwürfen des Architekten Alfred Messel und des Bildhauers Helmut Hahn errichteten Rathenau'schen Familiengrabstätte auf dem von der Familie um 1902 gestifteten Waldfriedhof Oberschöneweide beigesetzt. Einen größeren Ausdruck konnte die Verbundenheit der Familie Rathenau mit Oberschöneweide, Berlin und Deutschlandl kaum finden. Die Absicht der Nationalsozialisten, die Grabstätte abzureissen, konnte Edith Andreae noch vor ihrer Emigration verhindern. (…)
In Treptow-Köpenick soll nun eine Brücke über die neue Autobahn A 100 nach Mathilde Rathenau benannt werden.
Thomas Irmer: Sabine Mathilde Rathenau geb. Nachmann. In: Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin (Hg.): Frauenmosaik. Neue Frauenbiographien aus dem Berliner Stadtbezirk Treptow-Köpenick, Berlin 2009, S. 13–32.
Thomas Irmer: Eine Werks-Stiftung für Frauen. Zur Geschichte der „Mathilde Rathenau-Stiftung“ für weibliche Beschäftigte der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) im Deutschen Kaiserreich. In: Andreas Ludwig, Kurt Schilde (Hg.): Jüdische Wohlfahrtsstiftungen. Initiativen jüdischer Stifterinnen und Stifter zwischen Wohltätigkeit und sozialer Reform, Frankfurt am Main 2010, S. 213-237.